Art. 20 AEUV – Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht? Wie ist diese Vorschrift zu verstehen?

Das Verwaltungsgerichts Düsseldorf hat in einem aktuellen Beschluss vom 16. Januar 2024 (Az. 8 K 8657/22) ein Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mehrere Fragen zur Auslegung von Artikel 20 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vorgelegt.

Hintergrund des Falls

Im Mittelpunkt des Verfahrens steht eine kamerunische Staatsangehörige, die ohne Visum nach Deutschland eingereist war und hier ein Kind zur Welt brachte, das die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Sie beantragte eine Aufenthaltserlaubnis zur Wahrnehmung der Personensorge, da sie das alleinige Sorgerecht für ihr Kind hat. Die zuständige Ausländerbehörde lehnte den Antrag ab, insbesondere mit der Begründung, dass die Antragstellerin illegal eingereist sei und ein Ausweisungsinteresse bestehe.

Die unionsrechtliche Grundlage: Artikel 20 AEUV

Einer Abschiebung könnte in diesem Fall ein entgegenstehendes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht (Bleiberecht) aus Art. 20 AEUV entgegenstehen. Artikel 20 Abs. 1 AEUV verleiht jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt, den Status eines Unionsbürgers. Dieser umfasst nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2a, Art. 21 AEUV das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Dieser grundlegende Status der Unionsbürger steht nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird. Dies gilt auch für minderjährige Unionsbürger. Solange sie sich in einer Situation befinden, die durch eine rechtliche, wirtschaftliche oder affektive Abhängigkeit von Drittstaatsangehörigen bestimmt ist, darf auch durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen gegen diese nicht bewirkt werden, dass sich der minderjährige Unionsbürger rechtlich oder faktisch gezwungen sieht, das Unionsgebiet zu verlassen und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt wird (vgl. BVerwG, Urteile vom 30. Juli 2013 – 1 C 15.12 – und vom 12. Juli 2018 – 1 C 16.17 –, unter Verweis auf EuGH-Rechtsprechung, u. a. in den Fällen „Zhu und Chen“, „Zambrano“, „McCarthy“, „Rendón Martin“, „Chavez-Vilchez“ und „K.A.“).

Dabei ist es grundsätzlich unerheblich, ob sich die Maßnahme nur gegen einen oder gegen beide Elternteile des Unionsbürgers oder gegen andere Bezugspersonen richtet (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 – 1 C 15.12 –). Ein Abhängigkeitsverhältnis, das ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV rechtfertigt, besteht nicht allein durch eine Ehe oder verwandtschaftliche Bindung.

Im Fall eines minderjährigen Unionsbürgers ist dies vielmehr unter Berücksichtigung des Kindeswohls und aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Lebt der drittstaatsangehörige Elternteil mit dem unionsbürgerschaftsbesitzenden Elternteil des Minderjährigen dauerhaft zusammen, wird ein solches Abhängigkeitsverhältnis widerlegbar vermutet (vgl. EuGH, Urteil vom 5. Mai 2022 – Rs. C-451/19 u.a. (XU und QP) [Patchwork-family]).

Die Vorlagefragen an den EuGH

Das Verwaltungsgericht Düsseldorf erkannte, dass die Entscheidung von der Auslegung des Art. 20 AEUV abhängt und legte dem EuGH folgende Fragen vor:

  1. Hängt das Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV davon ab, ob das erforderliche Visum in zumutbarer Weise nachträglich beantragt werden kann?
  2. Entsteht das Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV automatisch und muss es von nationalen Behörden lediglich bescheinigt werden, oder ist es durch die nationalen Behörden konstitutiv zu gewähren?
  3. Falls das Aufenthaltsrecht automatisch entsteht: Zu welchem Zeitpunkt entsteht es?
  4. Falls das Aufenthaltsrecht durch nationale Behörden zu gewähren ist: Zu welchem Zeitpunkt ist es rückwirkend zu gewähren?

Mögliche Auswirkungen der EuGH-Entscheidung auf die Praxis

Die Entscheidung des EuGH auf die vorgelegten Fragen wird maßgeblichen Einfluss darauf haben, wie die nationalen Behörden mit vergleichbaren Fällen umgehen. Sollte der EuGH entscheiden, dass das Aufenthaltsrecht automatisch entsteht, würde dies eine erhebliche Stärkung der Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen bedeuten, die Eltern eines EU-Bürgers bzw. Deutschen sind.